Reisebericht

Jahreswechsel in Mysore

Die Fenster meines Zimmers sind weit geöffnet, mit der frischen Luft wehen auch die Geräusche des indischen Straßenverkehrs herein, das Hupen, die knatternden Motoren der Tuktuks und Motorroller, Vogelgezwitscher. Ich blicke auf Bananenstauden, die die Sicht auf das nächste Wohnhaus verdecken. Die Fenster sind mit einem metallenen Blumenmuster vergittert – damit keine Affen hineinkommen, sagt Suresh, unser Vermieter.

Die ersten Wochen sind verflogen. Mittlerweile habe ich das Gefühl angekommen zu sein und in den Alltag hier gefunden zu haben. Nicht nur ich, auch die Menschen um mich herum auf dem Rasen vor der SYC-Shala wirken entspannter, aufgeschlossener. Inzwischen lächelt man sich zu oder grüßt sich. Mit dem ein oder der anderen komme ich ins Gespräch. Es fühlt sich so an, als wäre ich wieder Fünftklässlerin, neu auf dem Pausenhof, um mich eine Menge Menschen, die sich zu Gruppen bilden.

Zu den Latein- und Südamerikanern gesellen sich Spanier und Portugiesen. Sie sind eine große Gruppe, wirken lässig, gesellig und unterhalten sich viel. Ein großer asiatischer Anteil, unter anderem aus Korea, Japan, China, Taiwan, eher zurückhaltend und unter sich, freundlich. Viele Russen, unter ihnen ein Italiener, der für seine Frau nach Moskau gezogen ist. Mit ihm freunden wir uns beim täglich erfrischenden Kokosnusswasser an. Ansonsten ist es ein bunter Mix, mit Leuten aus Italien, Kasachstan, Iran, USA, Israel, Türkei, Indien, Niederlande, uvm. Ein israelisches Paar und ihre Tochter erkenne ich vom letzten Jahr.

Ich bin froh, Eline an meiner Seite zu haben, mit ihr teile ich ein Apartment.

Der Tag beginnt für mich um 4 Uhr und das Wesentliche spielt sich in den ersten 6 bis 8 Stunden am Morgen ab: Üben, jeden zweiten Tag Chanten, Sanskrit und Philosophie Unterricht Teil II; Grammatik und Schrift sind Neuland.

Am Nachmittag ist Zeit zum Ausspannen, etwas Lesen oder Arbeiten und für eine warme Mahlzeit.
Um 7 Uhr denken wir bereits ans Schlafen gehen.

Das Herzstück einer jeden Woche sind die vier Morgen mit Mysore-Unterricht. In der Mitte der Shala befindet sich ein für 78 Matten abgezeichneter Bereich. Um 4 Uhr morgens beginnen hier die erfahrensten Schüler*innen ihre Praxis. Ein Meer aus sich in Stille bewegenden Körpern. Jeder übt für sich, in seinem Atemrhythmus, seinem Tempo. Durch die Halle klingt nur die Ujjayi-Atmung der Übenden, und Sharathji’s Stimme:

one mooore

Nachdem wir eine Weile vor der Tür auf den Einlass gewartet haben, sitze ich nun mit den anderen meiner „batch“ (zu Beginn wurden wir alle einem bestimmten Zeitfenster für unsere Praxis eingeteilt) am Rande des Übungsfeldes, sehe den Übenden der 5:30 Uhr batch zu und warte darauf, von Sharathji einen freiwerdenden Platz zugewiesen zu bekommen. Ich gehöre zu „tall“ und übe damit in den hinteren Reihen. „supertall“, wie Eline, darf in der letzten Reihe üben. „small“ bekommt einen Platz in den vorderen Reihen zugewiesen: Sharathji will alle überblicken können, jeden üben sehen. Er unterrichtet uns alle von
4 bis 10 Uhr morgens, mit einem warmen Lachen, Klarheit und Humor. Zwischen 6:30 und 7:00 Uhr beginne ich… die Gruppenenergie im Raum ist sehr hoch, man wird mitgetragen, die Praxis fühlt sich ganz anders an.

 Ich habe den Eindruck, so einiges hinter mir lassen zu können: Die Anspannungen, die sich in den letzten Monaten angestaut hatten, lösen sich nach den ersten Wochen auf.

Jeder – egal wie geübt oder begabt – beginnt hier mit primary series „Yoga Chikitsa“. Yoga Chikitsa bedeutet „Yoga-Therapie“, und folgt einer fest vorgegebenen Abfolge von Haltungen. Sie dient der körperlichen Reinigung, Heilung von Krankheiten, Kräftigung und Ausrichtung des Körpers. Sie ist die Grundlage, auf die die weiteren Asana-Serien – Intermediate Series, Advanced A und Advanced B – aufbauen und zu der jeder immer wieder zurückkehrt.

Der Lehrer bestimmt, wie weit man üben darf. Sharathji vergibt neue Haltungen erst, wenn er es für den richtigen Zeitpunkt erachtet. Es geht nicht darum, was man üben kann oder üben will, sondern allein darum sich auf die Praxis einzulassen, so wie sie ist: es gibt nichts hinzuzufügen, nichts wegzulassen.

Ich werde in die Intermediate Series eingeführt; die Zeit, in der ich von Primary zur Intermediate Series übergehe, sagt mir zu. An Weihnachten bin ich zu meiner ersten Intermediate Series LED, d.h. von Sharathji angeleiteten Intermediate Klasse, eingeladen!

Ein Geschenk – ein besonderes zu Weihnachten und zum Jahreswechsel: nach so einigen Jahren „Yoga Chikitsa“ Praxis, lasse ich teils übermäßige Anstrengungen der vergangenen Jahre hinter mir und schaue auf ein neues Jahr: „Nadi Shodana“, so der Name der Intermediate Series, soll der Stimulierung des Nervensystems dienen, die Energiekanäle reinigen und ausgleichend auf das sympathische und parasympathische Nervensystem wirken. Es erstaunt mich, wie sehr dieser Übergang in meiner Asana-Praxis die momentanen Veränderungen in meinem Leben widerspiegeln. Am Tag meiner Abreise sind in beruflicher Hinsicht für mich „Würfel gefallen“ und ich habe eine Entscheidung getroffen, die es mir ermöglicht, mich auf das zu fokussieren, was mir wirklich wichtig ist.

Ich empfinde es als Privileg, an diesem Ort zu sein und sich ganz auf diese Praxis einzustimmen, die über das Körperliche hinausreicht und mir Zeit zum Reflektieren gibt.

Diese persönliche Praxis eines täglichen, hingebungsvollen Bemühens – Sadhana – ermöglicht es mir, mit den Herausforderungen zuhause umzugehen und die zu sein, die ich bin.

धन्यवाद